Kombinierte Therapie bei funktionellen Beschwerden im HNO-Bereich

Jochen Gleditsch - Pionier, Mentor, Lehrer, Christ, Vorbild und Initiator erfolgreicher Therapieverfahren

Mitte der 1970er-Jahre lernte ich Jochen Gleditsch in der Arabella-Klinik beim gemeinsamen präoperativen Händewaschen kennen. Er erwähnte so nebenbei, dass ihm das Operieren immer weniger wichtig sei. Er habe als HNO- und ehemaliger Zahnarzt mit der Mundakupunktur, kombiniert mit Ohr- und Schädelakupunktur neue Wege gefunden. Er wolle darüber auf dem HNO-Welt-Kongress 1977 in Buenos Aires berichten. Gerne habe ich ihn dorthin begleitet und während des Fluges haben wir an seinem Text gefeilt und er machte mich u. a. mit der „Very-Point “ -Technik vertraut.

Beim Kongress fiel mir auf, wie bekannt und schnell umringt er war und wie menschlich bescheiden er blieb. Schließlich kannte er alle Koryphäen der Akupunkturszene persönlich. Auch solche der „Wiener Schule“ wie Helmut Kropej, Georg Kampik und Rudolf Bucek, die je ein Buch über Ohrakupunktur verfasst hatten – wie auch Johannes Bischko, wo er Zeuge wurde von 5 schmerzfrei durchgeführten Tonsillektomien mittels handstimulierter Nadelanalgesie (Di 4, Lu 11 beidseits). Auch mit seinem Pioniers- und Jahrgangskameraden Toshikatsu Yamamoto (YNSA – Yamamoto neue Schädelakupunktur) tauschte er sich regelmäßig aus.

Zurückgekehrt nach München in meine noch junge HNO-Praxis, habe ich die inzwischen schon praktizierte Neuraltherapie kombiniert mit Akupunktur und insbesondere mit der Mundakupunktur sozusagen als Neuralakupunktur. Schließlich gibt es ja Übereinstimmungen, wie z. B. der traditionellen Injektionen an den occipitalen Nervenaustrittspunkten mit den Akupunkturpunkten Bl 10, Gb 20 oder der Temporalis-Quaddeln mit Gb 3-5.

 

» Ich habe die Neuraltherapie kombiniert mit Akupunktur sozusagen als Neuralakupunktur

 

Über meine Erfahrungen habe ich dann in den 1980er-Jahren berichtet. Eine überwältigende Resonanz kam seinerzeit fast ausschließlich aus der DDR, denn dort gab es eine Akupunktur-Gesellschaft mit dem weiterführenden Namen: Gesellschaft für Akupunktur und Neuraltherapie.

In Ganztageskursen haben Jochen Gleditsch und ich uns über 25 Jahre bemüht, für den HNO-Berufsverband in Hannover und dann in Mannheim den jungen HNO-Ärztinnen und – Ärzten unser Wissen zu vermitteln. Nach der Wende unterstützte uns die Oberärztin Bettina Hauswald und organisierte zusätzliche gemeinsame Wochenendkurse an ihrer Heimatuniversitätsklinik Dresden als auch an der HNO-Universitätsklinik Köln.

Jochen Gleditsch ist nicht nur Ehrenpräsident der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur e. V. (DÄGfA), sondern war darüber hinaus jahrelang Lehrbeauftragter für Schmerzmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, der mit seiner kräftigen tiefen sonoren Stimme manuskriptfrei hinreißend überzeugend Zusammenhänge darstellen und begeistern konnte.

Seine christliche Einstellung und philosophischen Gedanken und Erinnerungen an seine Begegnungen mit der Sterbensforscherin Elisabeth Kübler-Ross klangen immer wieder durch bei den von ihm und seiner Frau Annelie organisierten Begegnungs- und Besinnungsabenden in ihrem Haus in Baierbrunn bei München. Auch haben Jochen und Annelie die bis heute bestehenden überkonfessionellen „Christlichen Besinnungstage e. V.“ mit der regelmäßig im Herbst durchgeführten „Heiligkreuztaler Woche“ gegründet.
Annelie war und ist ihm darüber hinaus als Mentorin bei seinen Beiträgen und vor allem seinen Büchern unentbehrlich.

Kopf-Mikrosysteme als Therapiezugänge

Zurück zur Akupunktur: Bei den oben erwähnten HNO-Kompaktkursen kam es darauf an, den Fokus auf die im Kopfbereich liegenden Mikrosysteme zu richten, wie Ohr-, Schädel- und Mundakupunktur.
Im HNO-Bereich sind wir immer mehr konfrontiert mit funktionellen Beschwerden wie Tinnitus, Otalgie, Schwindel, Cephalgie und auch Dysphagie – ohne organpathologischen Befund, gewissenhafte Ausschlussdiagnostik natürlich vorausgesetzt. Bei Tinnitus- und Schwindelpatienten ist oft noch eine kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) involviert.
Für funktionelle Krankheitsbilder bieten die Kopf-Mikrosysteme (Punkte am Ohr, im Mund und an der Stirn-Haar-Grenze nach Yamamoto) optimale Therapiezugänge (Gleditsch; [1-4]).
Nach meiner Vorstellung können die optimalen Wirkungen bei Ohr- und Mundakupunktur zurückzuführen sein auf retrograde Einwirkung auf den Hirnstamm: bei der Ohrakupunktur über Äste des N. facialis (VII) und des N. vagus (X) und bei der Mundakupunktur über den N. glossopharyngeus (IX), dessen Ausläufer die Schleimhaut des hinteren Rachenraums und den Bereich eines fiktiven 9er-Molaren sensibel versorgen.
Wir behandeln mit einem Suprarenin-freien, z. B. 1 %-Procain-/Lidocain-Präparat. Ein homöopathisches Präparat oder physiologische NaCI-Lösung haben nicht weniger Effekt bei den salvenmäßig/mesotherapeutisch verabreichten intramukösen Quaddeln.
Warum Beeinflussung des Hirnstamms? Hier liegen alle Nervenkerne eng beieinander und sind interaktiv untereinander vernetzt und befinden sich sogar in segmental gleicher Höhe zum Retromolarraum.
Wie wir aus neuen Forschungsergebnissen der Neuroanatomie (Neuhuber; [5]) wissen, haben die Propriozeptoren, von Gleditsch auch Eigenwahrnehmungsmelder (private Mitteilung) genannt, eine direkte Verschaltung zum Hirnstamm. Hier – im oberen Zervikalsegment, befinden sich beim aufrecht gehenden Zweifüßler nachweislich 100-mal mehr Propriozeptoren als in Ellenbogen-, Knie- oder Fußgelenken. Scherer (6] spricht deshalb vom „Nackenrezeptorenfeld“ und von einem „akzessorischen Sinnesorgan“, ohne das der aufrecht gehende Mensch nicht lebensfähig ist.
Hier liegt der diagnostische und therapeutische Schlüssel aller funktionellen Beschwerden im HNO-Bereich. Leider hat sich diese Erkenntnis aus der modernen Neuroorthopädie weder bei den Schmerz – und noch weniger bei den interdisziplinären Schwindelambulanzen genügend herumgesprochen. Neuroorthopädisch wird nicht mehr – wie bisher – die rein mechanische Stützfunktion der Halswirbelsäule, sondern deren biokybernetische/neuro-muskuläre Steuerung schwerpunktmäßig hervorgehoben.

Zum Vorgehen in der Praxis

Als Basistherapie erfolgt die salvenartige Quaddelbehandlung des Retromolarraums (Abb. 1) wie oben beschrieben. Hier sind alle 12 Meridianpaare repräsentiert mit entsprechend möglicher Ganzkörperwirkung, ferner auch die oben beschriebene retrograde Einwirkung auf die Hirnstammkerne.

Es folgt eine Injekto-Akupunktur in Form einer „Hafenrundfahrt“ (Abb. 2) an ohr- und kiefergelenksnahen Punkten, wie 3E 21, Dũ 19, Gb 2, Gb 8, 3E 17 als auch Gb 20 und BI 10.

Bei der „Hafenrundfahrt“ wird stets auch (als Nicht-Akupunkturpunkt) der ca. 1 Cun kaudal von 3E 17 tastbare Atlasquerfortsatz (C1) neuraltherapeutisch mitbehandelt.

Der Akupunkturbehandlung vorausgeschickt wird eine manuelle Extension des oberen Zervikalsegments nach Domnik, indem der Kopf des Patienten beim tiefen Ausatmen unter dem Mastoid für ca. 2-3 s in Extension gehalten wird, womit eine occipitale Relaxation ermöglicht wird (Abb. 3.) Domnik, ein mir damals persönlich bekannter HNO-Kollege, berichtete in den 1960er-Jahren über mit diesem einfachen Traktionsverfahren erfolgreich behandelte Dupuytren’sche Kontrakturen (7).
Als Abschluss führe ich eine bilaterale Nadelakupunktur durch – je nach Indikation an ausgewählten Punkten der Kopf-, Körper-, Ohr- und Yamamoto-neuen-Schädel-Akupunktur (YNSA) mit insgesamt 12-16 Nadeln.
Bei Kopfschmerzpatienten z. B. die Halswirbelsäulen(HWS)-Punkte in der Zone A nach Yamamoto an der Stirn-Haar-Grenze und die Ohrpunkte Occiput CO/C1 (29), Stirn (33) und Shen Men (55).
Immer auch den Yin Tang (EX-KH 3) an der Nasenwurzel wie auch Di 4 und Dü 3 an der Hand.
Bei Tinnitus- und Schwindelpatienten kommen noch die Yamamoto-Punkte Ohr und Schwindelpunkte auf der Antitragus-Oberkante, bei Patienten mit Kiefergelenksbeteiligung (CMD) noch die stomatognathen Punkte auf den Lobuli auriculae hinzu.

Es ist immer wieder überwältigend für Patienten, Begleitpersonen (!) und für mich selbst, wenn nach Vordiagnosen eines paroxysmalen benignen Lagerungs- oder Menière-Schwindels nach der Behandlung ein vorher unsicherer, oft ataktischer Tret-Test nach Unterberger wieder normal ausfällt. So ist zumindest eine Ausschlussdiagnostik vorgenannter Diagnosen durch Therapie erfolgt.

» Ein schon mehrfach antibiotisch behandelter Nebenhöhlenkopfschmerz verschwindet oft augenblicklich

Auch ein katamnestisch schon mehrfach antibiotisch behandelter in den Nasen-wurzel- und Hinteraugenbereich projizierter scheinbarer („pseudosinugener“)

Nebenhöhlenkopfschmerz verschwindet oft augenblicklich mit der spontanen Äu-Berung: „Ich sehe ja plötzlich viel klarer!“

Jochen Gleditsch hat mit seinen Anregungen die Behandlung funktioneller Beschwerden im HNO-Bereich zu einem Schwerpunkt meiner ärztlichen Tätigkeit und damit meinen Beruf bis heute zu einer Berufung und täglichen Freude ge-macht. Dafür danke ich ihm.

 

 

Literatur

 

1. Gleditsch JM (2005) Reflexzonen und Somatotopien. Elsevier, München

 

2. Gleditsch JM (2007) MAPS – Mikroakupunktursysteme – Grundlagen der Praxis der somatotopischen Therapie. KVM, Marburg

 

3. Sauer H (2014),HWS-Schwindel* und zervikogener Rezeptorenschwindel (ZRS), Synopsis aus 40-jähriger HNO-Erfahrung. Forum Hals Nasen

Ohrenheilkd 16:78-82

 

 4. Ogal HP, Kolster BC (2004) Propädeutik der Neuen

Schädelakupunktur nach Yamamoto (YNSA).

Hippokraters, Stuttgart

 

5. Golenhofen M (2008) Tinnitusbehandlung mit komplementärer Medizin. Elsevier, München

 

6. Scherer H (1985) Halsbedingter Schwindel. Arch 

Otorhinolaryngo/ Suppl. Il:107

 

7. DomnikL (1965) Über die Beziehung der Halswirbelsäule zu Hals-Nasen-Ohren-Erkrankungen. EFK

12:585-592

 

8. Sauer H (2016) Akupunktur interdisziplinär – ganzheitliche Aspekte bei Tinnitus und Vertigo. Forum Hals Nasen Ohrenheilkd 5:7

 

Korrespondenzadresse

Dr. med. Hartmut Sauer Privatpraxis – Integrative

Medizin

Englschalkingerstr. 202,

81927 München, Deutschland

info@hno-sauer.de

 

Dr. med. Hartmut Sauer ist

HNO-Arzt – Akupunktur – Naturheilverfahren.

 

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. H. Sauer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt.

Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.

Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient/-innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern/Vertreterinnen eine schriftliche Einwilligung vor.

Deutsche Zeitschrift für Akupunktur

2023 • 66 (2): 79-81

https://doi.org/10.1007/542212-023-00545-W

Angenommen: 20. Februar 2023

Online publiziert: 21. April 2023

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