Craniomandibuläre Dysfunktion und HNO-Heilkunde
Die Erfahrung zeigt, dass rund 30% der Patienten in der HNO-Praxis trotz eingehender Diagnostik keinen pathologischen HNO-Befund aufweisen. Diesen Patienten, die zum Teil viele frustrane Arztbesuche hinter sich haben, Hilfe anbieten zu können, ist eine Notwendigkeit für uns Niedergelassene. Auch ist dies eine Herausforderung, einen Blick über den Tellerrand des Fachgebietes zu wagen.
Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich mit den Leitsymptomen, Kopfschmerz, diffuser Schwindel, rezidivierende Otalgie und Tinnitus, Dysphagie und Stimmstörung haben – gewissenhafte Ausschlussdiagnostik vorausgesetzt – häufig ihre Ursache in einer gestörten Funktion des Zervikalsegments und/oder der Kiefergelenke bzw. des muskulären Kauapparates. Letzteres wird heute als craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) bezeichnet.
Gehörknöchelchen und Kiefergelenke stammen beide aus dem ersten Kiemenbogenast. Das Krokodil z.B. hört mit seinem Unterkiefer, es hat keine knöcherne Gehörkette, im Wasser ist es taub. Auch die Nackenmuskulatur ist unmittelbar in die Mund-/Kieferöffnungsfunktion mit eingebunden: Ohne Reklination des Kopfes und Fixierung der Nackenmuskulatur ist keine Öffnung des Mundes bzw. ein Zubeißen möglich; bei nach vorne geneigtem Kopf ist z.B. Kauen nur eingeschränkt möglich.
Dem HNO-Arzt vertraut ist der zu unrecht obsolete Begriff des Costen-Syndroms, der auf den US-Otologen James Costen (1895-1962) zurückgeht. Hierbei handelt es sich um einen Gesichtsschmerz (Prosopalgie), der von der Gesichtsmuskulatur auf Grund einer Fehlfunktion des Kiefergelenks ausgeht, oder durch Biss-oder Kauanomalien bedingt ist. Bei Nichtbehandlung und Chronifizierung kann es zu Kiefergelenksarthrose kommen. In neuerer Zeit ist man zum Begriff der cranio-mandibulären Dysfunktion (CMD) übergegangen. Synonym gebräuchlicher Begriffe sind temporomandibuläre Dysfunktion (TMD, engl. Sprachraum) oder Myoarthropathie (MA, Schweiz), oder auch myofaciales Schmerzsyndrom bzw. myofaciale Dysfunktion (Tab. 1).
Beschrieben werden neben den Gesichts- und Kieferschmerz, auch Kopfschmerzen, Nacken- und Ohrschmerzen, Druck hinter den Augen, in den Nebenhöhlen(!), auch Zahnschmerzen.
Wie kommt es zu der beschriebenen Symptomatik? Durch Tonusänderung der paravertebralen Muskelketten kommt es unter anderem zu Gelenkachsenverschiebung der Kiefergelenke, zu Verschmälerung des Gelenkspaltes und damit zu Kiefergelenksschmerzen (Abb. 1*). Die Folge sind Otalgie, somatosensorischer Tinnitus (Biesinger), Schwindel, migränoide Beschwerden, Muskelverspannungen im Nacken, pseudosinugener Kopfschmerz der ipsilateralen Seite (Sauer, 1984). Ursachen der muskulären Tonusänderung, die bei Chronifizierung, auch zu strukturellen Verkürzungen führen können, sind z. B. Beinlängendifferenzen, pathologische Kniegelenksbefunde oder Traumafolgen.
Aber auch umgekehrt können Kiefergelenksfehlstellungen zu Erkrankungen im Schulter-, Nacken- und sogar im Lumbalbereich führen (Ileosacralgelenk!).
Neuroanatomisch gibt es Verschaltungen der Kopfgelenks- und gesamten Kaumuskulatur mit dem Hirnstamm. Dysbalancen in diesem System haben nicht nur Auswirkung auf die Kiefergelenke, sondern vor allem auf das obere und untere Kopfgelenk, das obere Halswirbelsegment, auf Larynx und sogar bis zur ersten Rippe und zum Schultergürtel. Neuhuber, Erlangen, hat direkte neuroanatomische Verbindungen des Rezeptorengefüges des cervicocranialen Überganges zum Hirnstamm nachgewiesen. Hier findet sich vor allem der Trigeminuskern, der bekanntlich bis zu C3 herabreicht und darüber hinaus noch spinale Wurzeln hat. Dies erklärt die häufig zu beobachteten Auswirkungen auf den Schultergürtel.
Vermittelt werden diese Mechanismen über Proprio- und Nozirezeptoren in den genannten Muskelgruppen. Sie befinden sich besonders an den Muskelspindeln und allen Gelenken. Besonders häufig – bis zu 100 mal mehr – sind sie z.B. im Kopfgelenksbereich vertreten und stellen so ein akzesorisches Sinnesorgan für den aufrecht gehenden Menschen dar (Scherer, Berlin). So findet manche unklare Lagerungsschwindelsymptomatik seine Erklärung in einer Störung des Rezeptorengefüges des cervicocranialen Überganges. Manualmedizinisch tätige Kollegen wissen, dass Kopfgelenksstörungen mit reversiblen Blockierungen im oberen HWS- und Kopfgelenksbereich wegen der direkten Projektion der propriorezeptiven Afferenzen zum vestibulären Kerngebiet größte klinische Bedeutung haben (Mengemann, Graz).
Cervicaler Rezeptorenschwindel statt HWS-Schwindel?
Eigentlich handelt es sich so gesehen hier um einen cervicogenen Schwindel, man sollte wegen der Genese aber von cervicogenem Rezeptorenschwindel sprechen.
Die Steuerung der Kiefergelenksfunktion über die Propriorezeption ist derart sensibel (Abb. 3), dass minimale Störungen in der Okklusion zu erheblicher Unsicherheit und Schwindel führen können. Jeder kann sich dies im Selbstversuch klar machen: Legt man einen Speichelfänger aus der Zahnarztpraxis oder selbst eine Filmfolie (!) zwischen die Zahnreihen und beißt fest zu, fällt der Unterberger-Tretversuch bei geschlossenen Augen deutlich pathologisch, unsicher, teils ataktisch aus.
Therapieoptionen bei der CMD
Traditionsgemäß steht bei der CMD die zahnärztliche bzw. kieferorthopädische Behandlung im Vordergrund: mit Aufbissschienen und anderen Verfahren sollen die Kiefergelenke entlastet und eine optimale Okklusion erreicht werden. Manches dieser Therapieverfahren gelingt leichter (oder wird gar überflüssig!), wenn es gelingt, die z. B. durch Fehlhaltung bedingte muskuläre Spannungsspirale von Kaumuskulatur, Kopfgelenks- und oberer Halsmuskulatur zu durchbrechen. Im Prinzip ist dies eine Ganzheitsbehandlung über die Propriorezeptoren (Tab. 2).
Natürlich muss darüber hinaus dafür gesorgt werden, dass eine Korrektur von Fehlhaltungen im übrigen Skelettsystem erfolgt. Auch muss versucht werden, Stress beruflicher oder privater Natur abzubauen, da dies häufig eine Teilursache bei der CMD ist (Zahnknirschen). Zur Therapie haben sich Chirotherapie, Neuraltherapie an bestimmten Triggerpunkten wie auch Akupunktur als deafferenzierende Regulationstherapie bewährt. Bei der Akupunktur über Mikrosysteme (MikroAkuPunktSysteme, MAPS) (J. Gleditsch) erfährt der Organismus einen gezielten Stimulus zur Re-Optimierung seiner Funktion im Sinne einer Autoregulation. Die Akupunktur hat neben analgetischen muskelrelaxierenden, auch eine vegetativ harmonisierende und immunmodulierende Wirkung.
Klinische Studien der Universitätszahnklinik Wien haben gezeigt, dass über die Retromolarpunkte nach Gleditsch eine Muskelrelaxation der Hals-Nacken- und Kaumuskulatur erfolgt.
Sauer hat dieses Verfahren für die Praxis modifiziert: Im therapeutisch besonders wirksamen retromolaren Schleimhautgebiet, also hinter dem Weisheitszähnen beiderseits der plica pterygo-mandibularis werden sub- und intramukös Miniquaddeln gesetzt mit einem schwachprozentigen Lokalanästhetikum (z. B. Procain 0,5%ig, ohne Vasokonstriktor). Die Nadel hält dabei den Kontakt zur Schleimhaut. Diese Methode findet übrigens eine Parallele in der vor allem in Frankreich weit verbreiteten Mesotherapie. Durch die spezielle Lage der enoralen Quaddeln bukkal des Tuber maxilae und distal der unteren Weisheitszähne können per diffusionem Anteile der beiden Pterygoid-Muskeln erreicht und relaxiert werden (J. Gleditsch). Für diese enoralen Injektionen eignen sich speziell die praxisüblichen Insulinspritzen und Kanülen.
Auf der Ohrmuschel findet sich ein spezielles Repräsentationsareal des Kiefergelenks im Lobulus schräg unterhalb des Antitragus und der postantitragalen Falte. Dieses Areal eignet sich vorzüglich auch zur Akupressurbehandlung (Abb. 5).
Besonders wirksam bei der CMD sind Punkte an der Hand, speziell an Metacarpale 5. Dieses Areal am Grundgelenk des kleinen Fingers (am Ende der distalen Falte) entspricht dem Punkt „Dünndarm 2″ der traditionellen Akupunktur (Abb. 6). Dieser Punkt ist aber in der TCM nicht für diese Indikation bekannt.
Wie auch bei der Ohrakupunktur bringt erst die exakte Punktfindung mittels Very-Point-Technik nach Gleditsch den Weg zum optimalen Therapieerfolg.
Literatur beim Verfasser