Additive Behandlung des zentral-vestibulären Schwindels

Das Symptom Schwindel ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von verschiedenen Beschwerdebildern, die von Ätiologie und Pathogenese ganz unterschiedlich sein können. Nachfolgend wird das Konzept des „zervikalen Rezeptorenschwindels“ als Sonderform des zentral-vestibulären Schwindels vorgestellt. Therapeutische Optionen liegen hier in speziellen Akupunkturtechniken.

Schwindelpatienten leiden oft mehr als Schmerzpatienten, da sie ihre Beschwerden weder lokalisieren noch qualifizieren können. Die subjektive Schilderung des Patienten gibt oft mehr Aufschluss über Art und Stärke des Schwindels als aufwändige Untersuchungen. Aus dieser Tatsache hat Stoll [33) seine Tabellen der Intensität und Belastungsstufen entwickelt, wobei Beeinträchtigungen im täglichen Leben erfragt und tabellarisch festgehalten werden.


Pathologische Zusammenhänge

Die sog. Neuronitis vestibularis, der echte Morbus Menière als klassischer peripher-vestibulärer Schwindel, der echte benigne paroxysmale Lagerungsschwindel sind nach meiner Erfahrung in der Praxis eher die Ausnahme im Gegensatz zu vielfältigen menière- und lagerungsschwinde-ähnlichen Beschwerdebildern ohne messbaren pathologischen Befund [4, 7,8, 13, 17, 18, 19, 26, 32]. In der Mehrzahl solcher Fälle haben wir es mit solchen zentral-vestibulären Störungen zu tun, die ätiologisch auf der Ebene der Kopfgelenke und des segmental benachbarten Hirnstamms zu suchen sind. Eine radiologische und ggf. neurologische Ausschlussdiagnostik raumfordernder Prozesse oder hirnorganischer Störungen ist in der Regel bei chronischen Schwindelpatienten schon durchgeführt worden, andernfalls muss sie nachgeholt werden.

Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts ist die konstante Verarbeitung vestibulärer, optischer und sensorischer Informationen (• Abb. 1), die in verschiedenen Bahnen zu den übergeordneten Zentren gelangen, wo Koordination und Assoziation stattfinden [2, 31, 35). An der Gleichgewichtserhaltung sind zudem Fremd- und Eigenreflexe beteiligt

[32]. Eine zentrale Rolle hierbei spielt der zervikokraniale Übergang, d. h. die Ebene der Kopfgelenke [20, 28]. Nach Scherer [30] können die funktionellen Kopfgelenksstörungen mit ihrem bunten Symptomenbild alle klassischen Gleichgewichtskrankheiten imitieren.

 

Funktionelle Kopfgelenksstörungen können alle klassischen Gleichgewichtskrankheiten imitieren
 

Die kurzen Kopfgelenkmuskeln sind überaus stark besetzt mit feinen Stell- und Spannungsfühlern, den Proprio- und Nozizeptoren (21, 36), dem Rezeptorenfeld des Nackens. Wirken hier zu starke Afferenzen z. B. durch Dauerfehlhaltung, Zugluft, Stress oder auch übermäßige Physiotherapie (19, 25), so kann es zu neuromuskulären Gegenreaktionen kommen, die sich in einem schmerzhaften pathologischen Verspannungskreis manifestieren. Dieser kann wiederum als segmentaler Reiz auf das unmittelbar benachbarte Hirnstammgebiet Einfluss nehmen. Durch die vielfältigen neuronalen Vernetzungen in der Formatio reticularis kann es wiederum zur Beeinflussung anderer Hirnstammareale kommen. Eine Irritation des Trigeminuskerns (D Abb. 2), der bis über die Kopfgelenkebene herabreicht, kann z. B. die pseudosinugene Kopfschmerzsymptomatik [23] auslösen. Entsprechend erklärbar können so auch Ohr- und Schwindelsymptomatik sein durch neuronales Überspringen auf das Cochlearis- und besonders das Vestibulariskerngebiet, welches dem Trigeminuskern sozusagen aufsitzt.

Das Rezeptorenfeld des Nackens hat zusammenfassend folgende Charakteristika:

  • als „akzessorisches Sinnesorgan“ [2, 30, 34, ist das Rezeptorenfeld wichtig für die Orientierung im Raum (Abb. 3),
  • die kurzen Nackenmuskeln haben bis zu 100-mal mehr Rezeptoren als andere Muskeln [35, 36],
  • die Rezeptoren haben direkte neuro-anatomische Verbindung zum Hirn-stamm [21].

Aus diesen Erwägungen heraus wäre zu diskutieren, ob statt des umstrittenen Begriffs des HWS-Schwindels der eines „zervikalen Rezeptorenschwindels“ geprägt werden sollte.

Therapeutischer Ansatz

Der Ansatz für den HNO-Arzt ist, den pathologischen Circulus vitiosus therapeutisch zu unterbrechen. Dies geschieht u. a. durch Akupunktur. Sie gelingt am besten in Form von Mikrosystemakupunktur [10, 14].
An erster Stelle steht hier die von Gleditsch inaugurierte Mundakupunktur, die er mehrfach auf den Jahrestagungen der HNO-Gesellschaft vorgestellt hat, erstmals 1974 in Bad Reichenhall. Für unser Fachgebiet hat sich hier das Retromolargebiet, die Region eines fiktiven 9er Zahnes herausgestellt. Von hier kann man Einfluss nehmen auf sämtliche Akupunkturfunktionskreise (O Abb. 4), die hier ihre Projektionszonen haben. Vorwiegend im Unterkieferbereich erfolgen bds. kleine intramuköse Stichelungen in Form einer Injektoakupunktur bukkal und lingual des aufsteigenden Unterkieferasts und im Bereich des Trigonum retromolare. Dabei wird ein suprareninfreies niederprozentiges Lokalanästhetikum (z. B. 0,5%-1% Xyloneural“, Meaverin“) verwendet. Aber auch eine physiologische Kochsalzlösung oder ein Homöopathikum können gleiche Wirkung haben.

Neuraltherapeutisch geschieht vermutlich gleichzeitig auf Hirnstammebene ein segmentales Unterbrechen eines Fremdreflexes [24). Aus Gründen der wiederherzustellenden Achsensymmetrie sollte stets bilateral behandelt werden, unabhängig von der betroffenen Seite [5].

Die Mundakupunktur ist auch Basisbehandlung der von der „Arbeitsgemeinschaft Akupunktur in der HNO-Heilkunde“ an der Dresdener HNO-Universitätsklinik initiierten Schwindelstudie

(D Abb. 5). Gemäß des Studienprofils können weitere Mikrosystemakupunkturbehandlungen hinter dem Antitragus des Ohres erfolgen, der Projektionszone des zervikokranialen Übergangs in der postantitragalen Falte, zusätzlich der Punkt 29b Jerome, dem Entspannungspunkt am Ende der postantitragalen Furche. Im weiteren werden auf der sog. v. Steinburgschen Schwindellinie [32] an der Oberkante oder die am meisten empfindlichen Punkte genadelt.

Im Rahmen der Körperakupunktur nach der Akupunkturlehre wird insbesondere der „Dünndarmpunkt 3″ behandelt. Er hat eine Verstärkerwirkung auf die Ventralachse des Körpers und ist Einschalt-punkt für das Lenkergefäß [9], vermittelt also haltungsorientierte Impulse. Nicht selten sind Kau- und Kiefergelenkmuskulatur in die neuromuskuläre Spannungsspirale mit einbezogen. Dann erfolgt die Nadelung am proximalen Punkt Dü2 [13].

 

Therapiekontrolle

Wichtig ist, vor und nach der Behandlung die Kontrolle mit der spinovestibulären Prüfung nach Unterberger. Nach Erfahrungen in meiner Praxis kommt es bei erfolgreicher Behandlung zur Normalisierung des vorher pathologischen Befundes in zeitlichem Zusammenhang mit der Behandlung.
Zur Beurteilung des Therapieerfolgs sind vom Patienten in vorgegebenen Zeitabständen u. a. visuelle Analogskalen aus-zufüllen. Ärztlicherseits werden die Tabellen nach Stoll [33] einbezogen. Insgesamt erfolgen in der Regel 6 Behandlungen ohne zusätzliche Medikation, physikalische oder physiotherapeutische Maßnahmen.
So können die meisten – It. Überweisungsdiagnosen – sog. benignen paroxysmalen Lagerungsschwindelfälle ohne jegliches Befreiungsmanöver gebessert werden. Die Tatsache, dass solche Manöver und auch die daraus abgeleiteten Schwindelbehandlungs- und Übungsprogramme [3, 12] in Klinik und Praxis durchaus erfolgreich sind, muss nicht allein Folge einer stattgehabten Repositionierung von Otolithen sein. Sie kann auch Folge eines durch sanfte Bewegungsübungen erfolgten ausgleichenden Einflusses auf das Rezeptorengefüge des zervikokranialen Übergangs sein.
Mit dieser Vorstellung befinde ich mich durchaus in Übereinstimmung mit erfahrenen Kollegen aus Klinik und Praxis [1, 6, 11, 15, 16, 22, 27, 28, 29, 30, 34, 35], die ebenfalls die Aussagen moderner Neuroorthopädie und zeitgemäßer ärztlicher Chirotherapie übernommen und umgesetzt haben.

Fazit für die Praxis

Verspannungen im Bereich der Kaumuskulatur und des zervikokranialen Übergangs wirken über das Rezeptorenfeld des Nackens auf wichtige Kerngebiete des Hirnstamms, sodass sich hier eine pathophysiologische Begründung für den zentral-vestibulären Schwindel findet. Die Bezeichnung „HWS-Schwindel“ sollte daher durch den Begriff des „zervikalen Rezeptorenschwindels“ ersetzt werden. Diese häufig zu beobachtende Symptomatik, oft verbunden mit Tinnitus, Kopfschmerz oder Otalgie, lässt sich durch Unterbrechung der pathologischen Reflexbögen u. a. mittels Mikrosystemakupunktur therapieren. Dieses Verfahren ist dem HNO-Arzt sozusagen in die Hand gelegt, und er sollte davon Gebrauch machen bei den vielfältigen funktionellen Beschwerdebildern in der HNO-Praxis.

Korrespondierender Autor

Dr. H. Sauer

HNO-Arzt, Allergologie, Naturheilverfahren, Akupunktur

Interessenkonflikt: Der korrespondierende Autor versichert, dass keine Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt, bestehen.

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