Erfahrungen mit komplementärer Innenohrtherapie in der HNO-Praxis

(Dr. Hartmut Sauer)

 

Für additive komplementäre Innenohrtherapie gibt es zwei Grundvoraussetzungen:

  • Für sich allein durchgeführt steht sie am Ende konservativer Therapiemaßnahmen.
  • Sie darf grundsätzlich nur dann durchgeführt werden, wenn eine gründliche Ausschlussdiagnostik durchgeführt wurde; diese ist vor allem bei ängstlichen Patienten schon ein wichtiger therapeutischer Schritt.

 

Als gewissenhafter HNO-Arzt beschränkt man sich bei additiven Therapiemethoden deshalb auf den chronischen Tinnituspatienten mit entsprechendem Leidensdruck, auf den ausbehandelten Hörsturzpatienten mit Residual (Rest)-beschwerden.
Ich stelle hier drei Verfahren vor, die sich einzeln, vor allem aber kombiniert in der Praxis seit mehr als 20 Jahren bewährt haben.

 

Neuraltherapie
Akupunktur/Injektionsakupunktur


Schnell und einfach durchzuführen ist eine aus der Neuraltherapie und Akupunktur abgeleitete Behandlung. So wird bereits von Dosch und Hopfer u.a. die Infiltration an der Mastoidspitze empfohlen, entsprechend Akupunkturpunkt 3E17. Neuraltherapeutische Injektionen an den occipitalen Nervenaustrittspunkten entsprechen im wesentlichen den Akupunkturpunkten Galle 20 und Blase 10. Zielpunkt einer spezifischen Innenohrtherapie insbesondere das sog. "Tor des Ohres", ein Grübchen zwischen Tragus und Ohrmuschelansatz, das dem Akupunkturpunkt 3E21 entspricht (siehe Abb.1). Zusätzlich empfiehlt es sich, das Ohr in der Linie des 3-Erwärmer-Meridians in seinem Verlauf um das Ohr zu umquaddeln. Bei diesem Behandlungsschritt ist besonderes Augenmerk auf die retroaurikuläre Injektion zu richten:
Bei leicht geöffnetem Mund wird eine (die untere Hälfte der Aurikula wird dabei nach vorne geklappt) tiefe Infiltration zwischen Mastoidperiost und Gehörgangsschlauch gesetzt. Diese Technik entspricht der früher vorgenommenen Lokalanästhesie bei Tympanoplastiken nach van Eicken-Lavalle. Man verwendet z.B. ein 0,5-1% suprareninfreies Lokalanästhetikum und dringt mit feiner Kanüle ca. 1,5-2cm in die Tiefe und setzt dort ein kleines Depot von max. 0,5ml Lösung. Ein Hinweis auf eine passagere Facialisparese sollte unbedingt erfolgen! Diese verschwindet in der Regel nach max. 2 Stunden. Mit dieser Technik erreicht man die Endigung des Nervus auriculotemporalis aus dem Ganglion Gasseri mit seinen parasympathischen Fasern, wie auch die Ausläufer des Nervus auricularis aus dem Ganglium jugulare (Siehe Abb. 2 u. 3).

Ohrakupunktur


Reine Ohrakupunktur zur Behandlung von Innenohrerkrankungen ist wenig erfolgversprechend. Es empfiehlt sich jedoch, diese im Rahmen der geschilderten Maßnahmen zusätzlich einzubeziehen, insbesondere die Punkte "HWS", "Stellatum", "Nervus statoacusticus", "Innenohr" und "Niere"gemäß Abb. 4. Es werden hierzu kleine Stahlnadeln subkutan bis zum Perichondrium appliziert und nach 20 Minuten Verweildauer von der Helferin entfernt. (Näheres siehe Gleditsch, Akupunktur in der HNO-Heilkunde, Hippokrates-Verlag 1997)

 


Mundakupunktur
Ausgleich muskulärer Dysbalancen


Die oben beschriebenen Verfahren sind gut als Einstieg in die additive Innenohrtherapie geeignet, wobei diese Verfahren nur in einem Gesamtkonzept erfolgversprechend sind. Deshalb sei als Basistherapie, und gewissermaßen übergeordnetes Verfahren die Reflexunterbrechung durch Mundakupunktur nach Gleditsch modifiziert nach Sauer dargestellt (näheres siehe Sauer, H.: Halsbedingte myoneuralgische Irritationsbeschwerden - ein Vorschlag zur Therapie durch den HNO-Arzt. Laryngol.-Rhinol. Otol. 67 (1988) 96-99)
Die Erfahrungen in der Praxis haben gezeigt, dass fast alle Tinnitus- wie auch Hörsturzpatienten eine Muskelverkürzung und einen verstärkten Hartspann der paravertebralen Muskulatur aufweisen. Hiermit sind Muskelverkürzungen verbunden mit subklinischen Blockierungen im Kopfgelenk- und oberen HWS-Bereich (gleiches gilt für Kopfschmerz-, Migräne- und Neuralgiepatienten). Der Tonus der kontralateralen Muskelketten unterliegt der ständigen Einregulierung durch biokybernetische Rückkopplungs- und Kontrollmechanismen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Propriorezeptoren der kleinen Wirbelgelenke und der Muskelansätze am cervicocranialen Übergang. Sie sind über Rami communicantes mit dem Hirnstamm verschaltet und haben Verbindung nicht nur zu Gleichgewichts-, sondern auch zu anderen Hirnstammzentren (Abb. 5). Diese Zusammenhänge erklären die Fülle von Irritationsbeschwerden bei Störungen innerhalb der Reflexabläufe. Streß, Ärger, Mobbing, Fehlhaltungen am Computer, aber auch Auskühlung des Nackens bei sportlicher Betätigung durch Verdunstungskälte haben Muskelverspannungen zur Folge, die dann zu Blockierungen im Kopfgelenkbereich führen können. Zu den klassischen Beschwerdebildern zählen dann Otalgie, Tinnitus, Vertigo, pseudosinugener Kopfschmerz wie auch die gesamte Palette der vegetativen Beschwerdebilder.

Das Behandlungsprinzip ist auf die Unterbrechung pathologischer Reflexmechanismen ausgerichtet. Der HNO-Arzt praktiziert dies am einfachsten durch Stichelung von Triggerzonen des Retromolarraums (siehe Abb. 6). Diese Punkte liegen u.a. hinter den Weisheitszähnen im Gebiet eines zusätzlich - fiktiven - Molaren, weshalb Gleditsch, der Urheber dieses Verfahrens, vom "9er-Gebiet" spricht. Oberflächliche submuköse Quaddeln in kleinsten Mengen mit einem niederprozentigen Lokalanästhetikum - also nur Stichelungen - bewirken sofort eine spontane Normalisierung muskulärer Dysbalancen cervicaler Muskelketten und damit ein Nachlassen von Irritationsbeschwerden. Gewiß sind Zusammenhänge der retromolaren Mundschleimhaut und der Nackenmuskulatur nicht leicht nachvollziehbar, jedoch spricht die spontane Reaktion bei Reizung dieser Zonen dafür, daß es sich hier wahrscheinlich um Areale eines Fremdreflexes im Sinne "Headscher Zonen" handelt.

Die orale Therapie soll aus Gründen der Symmetrie auch kontralateral durchgeführt und der Patient danach zum aktiven Heben der Schultern aufgefordert werden, wodurch es zu einem spontanen Lymphabfluß in den jetzt entspannten Muskelarealen kommt. Man kann so von einer "aktiven HWS-Mobilisierung" sprechen. Übungsbehandlungen zur Dehnung der Kopf-Hals-Muskulatur werden dem Patienten gezeigt.

 


Vorgehen und Behandlungsablauf


Ein chronischer Tinnituspatient mit entsprechendem Leidensdruck oder ein Residualzustand nach Hörsturz wird z.B. einer 10-tägigen Intensivtherapie unterzogen:
Täglich wird die Neural- und Ohrakupunktur durchgeführt, mit Nadel-Verweildauer von 20 Minuten. Jeweils am Wochenanfang und Wochenende erfolgt zusätzlich die bereits geschilderte Basistherapie der gezielten Reflexunterbrechung am cervicocranialen Übergang mittels Mundakupunktur mit anschließender postisometrischer Relaxation als Muskeldehnungsbehandlung sowie leichten passiven Traktionsmassagen. An den dazwischenliegenden Wochentagen erfolgt nur die genannte Neuralakupunktur und Ohrnadelung mit 20-minütiger Verweildauer (Hinweis auf passagere Facialisparese beachten). Im Idealfall ist eine solche Intensivbehandlung nach 2 bis 2,5 Wochen abgeschlossen.

 


Ergebnisse


Beim Einsatz der kombinierten additiven Innenohrtherapie, d.h. Reflexunterbrechung mittels Mundakupunktur plus lokaler Neuralakupunktur, liegen Versagerquote wie auch Quote der vollkommenen Rückbildung bei ca. 20% (Streubreite +/- 5%). "Linderung" und "Besserung" werden bei ca. 30% angegeben. Dies betrifft Patienten  mit chronischem Tinnitus als auch bei Zustand nach altem Hörsturz.
Beurteilungskriterien bei Hörsturzpatienten sind zunächst subjektiver Natur. Nach vier bis fünf Behandlungen erfolgt eine audiologische Messung. Kommt es zu einem Anstieg der Hörkurve in Verbindung mit einer subjektiven Verbesserung, wird von einer "Linderung" oder "leichten Besserung" gesprochen. Kommt hierzu noch eine Verbesserung der Diskrimination im Sprachaudiogramm, so wird von einer "Besserung" bzw. "deutlichen Besserung" gesprochen. Bei Tinnituspatienten gibt es keine objektiven Meßkriterien. Als Erfolg oder leichte Besserung wird bewertet, wenn sich das Gesamtbefinden des Patienten bessert, die "Spannung" nachgelassen hat, der Tinnitus leiser oder sich in der Frequenz verändert hat.
Von "deutlicher Besserung" wird gesprochen, wenn zusätzlich noch angegeben wird, daß der Tinnitus für Stunden oder Tage ganz aussetzt.

 


Diskussion


Die Erfolgsquote von Remissions- und deutlich gebesserten Patienten liegt bei knapp 50%, unter Einbeziehung auch der leicht gebesserten Patienten bei knapp 80%. Dies ist aber nur das Ergebnis einer konsequenten kombinierten Therapie: Grundprinzip ist die Unterbrechung pathologischer Reflexmechanismen und muskulärer Dysbalancen durch Mundakupunktur und anschließende aktive Mobilisation. Für die lokale Behandlung allein sind gute und vor allem dauerhafte Erfolge eher die Ausnahme. Ist die Therapie mit positivem oder negativem Erfolg abgeschlossen, sollte sich der Patient nach einem halben Jahr wieder vorstellen. Viele zufriedene Patienten kommen allerdings erfahrungsgemäß nicht mehr, man sieht sie anläßlich einer anderweitigen Behandlung zufällig wieder. Immer wieder wird die Beobachtung gemacht, daß auch nach scheinbar weniger erflogreichem Behandlungsergebnis sich erst mit einer Latenz von 2 bis 4 Wochen nach Abschluß der Behandlung eine Besserung oder sogar Remission einstellt. Hier muß allerdings auch an eine Spontanemission gedacht werden, weshalb solche Fälle allenfalls als "gelindert" oder "gebessert" geführt werden.